Zum ersten Mal seit 2009 gibt es wieder ein neues Album von Muff Potter. Mit dem am 26. August 2022 erscheinenden »Bei aller Liebe« hat die legendäre Indie-Rockband sich selbst und ihre Liebe zur Musik wieder entdeckt. Mit Emphase, Dringlichkeit und bissiger Zeitgeist-Diagnostik gelingt Muff Potter eine überwältigende Neupositionierung.
Man muss kein ausgewiesener Band-Romantiker sein, um zu wissen: Es gibt Konstellationen, bei denen die Summe gewaltiger ist als ihre sprichwörtlichen Teile. So eine besondere Fügung des Schicksals wurde Thorsten Nagelschmidt, Dominic Laurenz und Thorsten Brameier bereits vor langer Zeit zuteil. Gemeinsam mit dem Gitarristen Dennis Scheider gestalteten sie den prägenden Teil der 16 Jahre und sieben Alben währenden Karriere der westfälischen Indie-Punkband Muff Potter. Wenn Menschen sich so lange kennen und musikalisch blind verstehen, ist das ein kostbares Geschenk.
Im Jahre 2009 offiziell aufgelöst, spielten Muff Potter im August 2018 überraschend beim antifaschistischen Festival Jamel rockt den Förster, im Anschluss gaben sie ein paar Tourdaten bekannt. Sieben Shows im Januar 2019, kaum Werbung, keine große Sache. Dachten sie zumindest, denn nun brach die Hölle los: Sämtliche Shows waren binnen Minuten ausverkauft und mussten in größere Hallen verlegt werden. Es gab keine Interviews, keine aktiven Social-Media-Kanäle, keine neue Musik, aber offenbar eine große Muff-Potter-Sehnsucht da draußen. Auch bei den Musikern selbst, das wurde jetzt immer klarer. Ebenso klar war ihnen allerdings, dass ihnen Muff Potter zu wichtig ist, um »ewig die Nostalgiekuh zu melken«, wie Nagelschmidt sagt. Wenn diese Geschichte wirklich weitergehen sollte, brauchten sie einen echten Grund. Idealerweise einen künstlerischen.
Die alles entscheidende Frage: Wie kann man als Band, die neun Jahre nicht existiert hat, überhaupt sinnvoll weitermachen? »Ich wollte auf keinen Fall so tun, als würden wir irgendwo nahtlos anknüpfen«, sagt Sänger, Gitarrist und Texter Thorsten Nagelschmidt. Es ging also darum, die vergangene Zeit auf eine Weise sicht- und hörbar zu machen, dass dabei trotzdem frische, aufregende Musik herauskommt. Im Hier und Jetzt gültig, aber eben doch: laut und physisch.
Die Frage erledigte sich von selbst, als die Musiker zum ersten Mal mit ihren Instrumenten in einem Raum standen, um an neuen Songs zu arbeiten. Immer wieder haben Muff Potter sich in den Jahren 2020 und 2021 zu Probe-Sessions aufs Kulturgut Haus Nottbeck in Oelde zurückgezogen und dabei Musik auf eine Weise körperlich erlebt, wie das wohl nur durch die pandemiebedingte Isolation dieser Zeit möglich war. Die sich daraus ergebende Dringlichkeit übertrug sich automatisch auf die Songs. »Diese neuen Songs haben für mich den Ausschlag gegeben, unbedingt dabei sein zu wollen«, sagt Felix Gebhard, der nach Dennis Scheiders Ausstieg die Rolle des zweiten Gitarristen übernahm.
Produziert hat die Band »Bei aller Liebe« im Studio Nord Bremen – und damit genau an jenem Ort, wo in einer anderen Zeit in einem anderen Leben das allererste Muff-Potter-Album gemastert worden war. Das Studio wird mittlerweile von Gregor Hennig betrieben, der unter anderem Die Sterne und Phillip Boa produziert hat und der sich als die perfekte Wahl für »Bei aller Liebe« erwies.
»Die meisten Songs wurden live aufgenommen«, sagt Nagelschmidt, »ganz klassisch: vier Leute in einem Raum, die zusammen Musik machen.« Man hört es überdeutlich: »Bei aller Liebe« ist von einer überwältigenden Live-Energie durchzogen, man spürt in jedem Moment das wild schlagende Herz einer Band, die sich selbst und ihre Liebe zur gemeinsamen Sache wiederentdeckt hat. Immer wieder geht es um musikalische und inhaltliche Opposition zu Selbstoptimierung und Vereinzelung.
Aus alten Fragestellungen und neuen Antworten haben Muff Potter die vielleicht aufregendste, vielstimmigste Musik ihrer Karriere destilliert. Mit ihrem auf dem bandeigenen Label Hucks Plattenkiste erscheinenden achten Studio-Album »Bei aller Liebe« haben sie einen neuen Raum für sich und andere gefunden. Ein Raum, in dem die Möglichkeiten unendlich erscheinen. Jenseits von jedem und offen für alle.