Wenn man Matthias Engst in seinem Marzahner Kiez besucht, kann es passieren, dass aus dem geplanten halbstündigen Interview zur neuen Platte ein Drei-Stunden-Talk wird. Vor allem, wenn man ihn an seinem zweiten Arbeitsplatz neben der Bühne besucht: Er leitet den Jugendclub „Energy“ in Berlin-Marzahn. Und er „leitet“ sozusagen die Band ENGST, die aber eben kein reines Soloprojekt ist, obwohl sie seinen (Nach-)namen trägt. „Ich glaube, das funktioniert auch nur genauso. Mit mir, Ramin Tehrani (Gitarre, Backing Vocals), Yuri Cernovolov (Schlagzeug) und Chris Wendel (Bass Backing Vocals). Wenn da einer gehen würde, wäre es das glaube ich mit ENGST.“ Zum Glück klingt ihr bald kommendes, drittes Studioalbum „Irgendwas ist immer“ so gar nicht, als wäre das irgendwie in naher Zukunft zu befürchten.
Die 13 neuen Songs sind im Grundton oft sehr melancholisch, drücken musikalisch aber trotzdem ziemlich nach vorne. Es gibt breitkreuzige Drums, Euphorie trunkene Bläser, ein Gitarrensound wie ein herzlicher Schwitzkasten – und natürlich die Stimme von Matthias Engst. Punk- und Hardcore-geschult, vom Leben angeraspelt – dabei aber oft erstaunlich, nun ja, massenkompatibel. Nicht ganz leicht, diesen Effekt zu beschreiben, aber sagen wir so: Matthias Engst hätte mit dieser Stimme auch der neue Tim Bendzko, Mark Forster oder Ben Zucker werden können. Vergleiche, die hier mal nicht als Diss gedacht sind, sondern einfach bedeuten: Er hätte – wenn er glattgebügelte Radiomusik machen wollen würde – auch die Stimme für die breite Masse. Manchmal spielen ENGST sogar genau damit. Zum Beispiel in der, ja nennen wir sie ruhig so, Power-Ballade „3 Uhr nachts“. Da sagt Matthias selbst: „Klar, das ist Radiopathos. Aber mit dem Wort ‚Hurensohn‘ im Chorus haben wir uns das ja gleich wieder versaut.“ Dann lacht er laut und gibt zu, dass man tatsächlich mit Management und Produktion darüber diskutiert habe. „Die wollten, dass ich ein anderes Wort finde. Aber der Song ist autobiografisch. Ich sitz da nachts besoffen in der Kneipe, merke, dass ich das mit meiner Ex doch hätte retten sollen und dann lauf ich zu ihrer Wohnung, wo schon der Neue wohnt, stehe hackevoll auf der Straße und brülle nach oben. Da sag ich doch nicht ‚Doofkopp‘ oder so.“ Natürlich wolle man mit der Band nach vorne, gibt Matthias zu: „Wir wollen groß werden, wir wollen mehr Reichweite bekommen, wir möchten mehr Interviews geben, wollen mehr Festivalbühnen – aber eben nicht um jeden Preis.“ Eine weitere Ballade macht dann übrigens recht deutlich, dass Matthias Engst weiß, dass die Aktion vor dem Fenster der Ex-Freundin kein Glanzstück war. In „Idiot“ singt er am Anfang mit viel Gefühl in der Stimme: „Ich bin ein richtiger Idiot und das weiß ich auch / Hab‘ zuviel von den Fehlern, die keiner braucht.“ Aber keine Panik: Zwischen den sehr guten Balladen gibt es auch Stücke wie „Geschichte schreiben“, „Digitale Liebe“, „Wir werden alle sterben“ und „Erwachsen werden“. Die sind weiterhin Punkrock, der auch Fans von den Hosen, den Broilers oder Feine Sahne Fischfilet abholen dürfte – aber die machen ja auch inzwischen Arenen voll.
Matthias Engst freut sich fast ein wenig diebisch, wenn man ihm „Massenkompatibilität“ vorwirft: „Ich glaube, viele haben diesen ersten Eindruck von uns. Weil wir musikalisch schon sehr aufgeräumt und poppig klingen können. Wenn man uns, also unsere Fressen, noch nicht live gesehen hat, denken viele: ‚Joah, das ist so eine nette Deutschrock-Punkband.‘ Dann machste mal ne Klavierballade und die Leute sagen: ‚Guck an, der Sänger kann auch singen.“ Kann er wirklich. „Und wenn sie uns dann live sehen, wie wir abgehen auf der Bühne und wie zugehackt ich bin in Sachen Tattoos, denken sie: ‚Woah, das is‘ wild.‘“ Eines dieser Tattoos ist ein Schriftzug mit den Worten „Punkrock saved my Life“. Matthias erzählt: „Das ist einfach zu 100 Prozent wahr. Der Punk hat mir irgendwann gegeben, was ich immer gesucht habe. Ich habe gemerkt: Geil! Ich muss gar nicht dazugehören, um gesehen zu werden. Ich werde viel mehr gesehen, wenn ich nicht dazu gehöre. Wenn ich ein Paradiesvogel bin. Und das war für mich jetzt mit der Platte besonders wichtig: Ein Album zu schreiben, das sehr authentisch ist. Mit wenig Schnickschnack. Das war nicht gleich zur Freude der Plattenfirma. Weil die letzte Platte Top 20 war, und man ja da auch hätte andocken können. Ja, wir lieben die Platte auch, aber die Lebensumstände haben sich seitdem halt verändert, und die Essenz ist für mich jetzt dieses authentisch und echt sein.“
Das Gespräch im Garten des „Energy“ wird immer wieder mal nett unterbrochen. Von ein paar Kids, die noch auf den Basketballplatz wollen, von befreundeten Musikern, die den Proberaum im „Energy“ nutzen können, von einem neugierigen Fuchs, der lässig vorbeitrottet, bevor er über den Zaun in das kleine Waldstück daneben springt. Das Berlin in Marzahn-Hellersdorf ist ein anderes als das, was man heute in Neukölln oder Friedrichshain erlebt. Matthias Engst ist hier aufgewachsen. „Ich leb seit 37 Jahren in Hellersdorf-Marzahn“, erzählt er, „und hab‘ hier wirklich alles mitgekriegt. Vor 13 Jahren war ich mal
Opfer von einem richtig schweren Fascho-Überfall. Das war nicht schön. Ich habe irgendwie schon früh gewusst: Die ganze Welt kann ich nicht retten. Ich habe immer gesagt, ich möchte erst den Teil der Welt vor meiner Haustür retten, kleine Brötchen backen, bevor die große Welt drankommt. Für mich war es halt klar: Wenn die Faschos vor meiner Haustür marschieren, dann bin ich mit meinem Papa auf die Demo gegangen und wir haben auch Steine geschmissen und so‘n Scheiß, was ich heut nicht mehr machen würde.“ Auch sein sozialer Job war eine Konsequenz dieser Einstellung. Nach einer Ausbildung in einer psychiatrischen Einrichtung als Sozialarbeiter und einigen Jahren als Streetworker habe er seine Weltansicht zu seinem Beruf gemacht. „Ich wollte einfach irgendwas machen, wo ich an der Basis Dinge verändern kann. Und das ist für mich nun mal das Arbeiten mit jungen Menschen. Auf die kommt es an. Ich kann mit ihnen hier in den Dialog treten und bekomme direkt mit, was viele von ihnen beschäftigt. Rassismus ist zum Beispiel heute ein anderes Thema als früher, weil das viel unterschwelliger passiert. Oder auch das Thema Frauenbild: Bei uns gibt es 13- oder 14-jährige Mädchen, die wir seit sechs Jahren betreuen und die bekommen teilweise von ihren Mitschüler:innen oder sonst wo ganz verquere Frauenbilder vermittelt.“
Die Musik von ENGST ist trotzdem alles andere als pädagogischer Punkrock. Das beweist zum Beispiel „Nie wieder Alkohol … vielleicht“: Ein Song über das altbekannte Taumeln zwischen Suff und Kater, musikalisch wie dafür gemacht, um ihn mit einem Becher Bier in der Hand in den Club zu brüllen, obwohl man doch weiß, dass man gerade wieder lachend in die Kreissäge läuft und es am nächsten Morgen bereuen wird. „Doch leider bin ich ein inkonsequentes Schwein, breche meine Regeln mit Bravour“, singt Matthias Engst an einer Stelle. Auch das biografische „Erwachsen werden“, dass er als „mein Leben 1:1“ beschreibt, erzählt von einem Mann, der auch mal stolpert, herumirrt, zusammenbricht, sich wieder aufrappelt. Solche Kapitel gibt es immer mal wieder im Leben von Matthias Engst. „Als ich mit meiner ersten Punkband damals – da war ich so 22,23 – erste, minimale Erfolge hatte, dachte ich gleich: Jetzt geht’s los! Damals hab ich auch noch gestofft und Drogen genommen und so‘ne Pisse. Ich kam überhaupt nicht klar, bis ich mal so derangiert in meinem Zimmer aufgewacht bin, dass mir klar wurde. Ich muss was machen.“ Seine Leute in Marzahn und vor allem seine Eltern halfen ihm, wieder auf Kurs zu kommen. Nicht zuletzt durch ENGST hält er jetzt die gute Balance aus Exzess, den er gerne auf Bühnen auslebt, und so was wie Alltag. Aber genau dieses Leben steckt nun in Zeilen wie diesen, die man im ebenfalls biografischen „Geschichte schreiben“ hört: „Hier und da die falsche Ausfahrt gewählt / Hier und da auf falsche Freunde gezählt / Die Echten bleiben für immer / Für euch ist das Herz / für die anderen der Finger.“
„Die Texte kommen ja komplett aus meiner Feder“, erklärt Matthias Engst, „obwohl ich schon auch Themen aufgreife, die die anderen einbringen. Aber für mich war jetzt bei dieser Platte ganz wichtig, mal so ein ‚Das ist es. Das bin ich‘-Statement rauszuhauen.“ Dazu gehörten eben auch „Themen, die mir unangenehm sind, bei denen ich selbst nicht so gut wegkomme.“ Und trotzdem bleibt der Zeigefinger dabei unten: „Wir benennen tatsächlich viele Dinge, aber ohne sie zu werten. Wir wollen keine Band sein, die mit Zeigefinger wedelt und unseren Fans erklärt: So und so müsst ihr sein, dagegen müsst ihr sein, die Bands dürft ihr hören, die nicht, weil die scheiße sind.“ Wie er das meint, erfährt man zum Beispiel beim Thema Freiwild. „Wir schmeißen niemanden raus, der bei uns auf der Show mit einem Freiwild-Pullover steht. Wir finden die Band scheiße, wir haben einen Song gegen die gemacht. Aber solange die nicht auf dem Index stehen, ist mir doch lieber, dass ein 16jähriger mit Freiwild-Pullover bei einer ENGST-Show steht, als bei denen. Was hilft es denn, wenn ich den rausschmeiße? Ist doch klar, auf welche Seite er sich dann schlägt. Es ist doch mein fucking Job, mit Leuten in den Dialog zu treten und ich finde, der Job als Künstler ist sehr, sehr eng verwoben mit dem Job eines Sozialarbeiters. Du hast einen Auftrag, du willst deine Überzeugung an jemanden ranbringen, musst dabei aber so weitsichtig sein, zu sagen: Das ist ja meine Überzeugung, und ich habe die Weisheit auch nicht mit Löffeln gefressen.“
Hin und wieder werden ENGST dann aber doch auch explizit politisch, wenn ihnen ein Thema wichtig ist. Auf „Irgendwas ist immer“ passiert das bei „Blut auf dem Asphalt“ – eine grimmige Bestandsaufnahme des Lebens auf der Straße und der wachsenden Gewalt gegen Obdachlose. Was zum Henker sind wir denn für eine Gesellschaft, in der junge Besoffene Obdachlose anzünden – wie es in Berlin seit 2016 fast in jedem Jahr mindestens einmal passiert ist?
Man könnte noch seitenweise über Matthias Engst und seine Band weiterschreiben. Und sich zum Beispiel noch mal die Sache mit der Pro7-Casting-Show erzählen lassen, bei der er vor einigen Jahren mitmachte und zum ersten Mal einem größeren Publikum sein musikalisches Können – und zur Prime Time seine Arschritze beim Sprung in den Pool – zeigte. Aber ein paar Geschichten müssen wir an dieser Stelle dann doch noch zurückhalten, damit auch die Medienwelt mal die Chance ergreift, mit diesem spannenden Künstler und seinen Mitstreitern über dieses starke Album zu sprechen.
Daniel Koch (freier Autor u. a. für DIFFUS, starzone.ch, ARTHAUS Magazin, MagentaMusik)
Tracklist:
01. Digitale Liebe
02. Geschichte schreiben
03. Drei Uhr nachts
04. Wir werden alle sterben
05. Nie wieder Alkohol... vielleicht
06. Umtausch ausgeschlossen
07. Idiot
08. Kopf hoch Fette Jahre
09. Nachbar
10. Blut dem Asphalt
11. Erwachsen werden
12. Die letzte Runde